Das Schulwesen wurde im Zuge der Reformation eingeführt und stand drei Jahrhunderte lang unter der Aufsicht der Kirchen. Erst 1833 übernahm der Staat die Verantwortung für die Ausbildung der Thurgauer Schülerinnen und Schüler.
Die Reformation ist die Mutter der Volksschule:
Beide Reformatoren, Martin Luther wie auch Huldrych Zwingli, hatten die Bibel auf Deutsch übersetzt, und der aufkommende Buchdruck ermöglichte deren grossflächige Verbreitung.
Es war ein zentrales Anliegen der Reformation, dass jedermann die Bibel in seiner Muttersprache lesen konnte.
So wurden unter der Obhut der reformierten Kirche ab 1530 wohl in den meisten Thurgauer Dörfern die ersten Schulen eingerichtet, wobei der Pfarrer die Kinder gleich selbst in seiner eigenen Wohnstube unterrichtete.
Wo der katholische Bevölkerungsanteil gross genug war, sprang man in der Folge ebenfalls auf diesen Zug auf: die Schulen waren jahrhundertelang konfessionell getrennt.
Dieser relativ unspektakuläre Beginn des Schulwesens ist oft gar nicht dokumentiert worden, vielerorts sucht man in den Archiven vergebens danach.
An einigen Orten stifteten wohlhabende Einwohner oder Adlige so genannte Freischulen, die konfessionell unabhängig und unentgeldlich waren, also auch Schülern von armen Eltern offenstanden (zum Beispiel die von Breitenlandenberg und Zollikofer in Hattenhausen und Engwilen, Johann Gelderich in Ermatingen oder später auch Louis Napoleon in Salenstein und Berlingen).
Die Landvogtei Thurgau unterstand im Kirchen- (und eben auch Schul-) wesen dem Kanton Zürich. Der zuständige Examinatoren-Konvent erliess 1637 eine "durchgehende Ordnung für die Schulen auf der Landschaft", die schon eine allgemeine Schulpflicht voraussetzte.
Diese wurde allerdings erst 1833 mit dem ersten Thurgauer Schulgesetz durchgesetzt.
Bald erteilten die Pfarrherren den Unterricht aber nicht mehr selbst, sonder stellten dafür einen Schulmeister an. Nicht selten handelte es sich bei diesen um Tagelöhner, Invalide oder ausgediente Söldner, Kleinbauern oder Handwerker aus dem Dorf (oft auch um "junge leüten ohne hinlängliches ansehen") – und einige unter ihnen hatten mit Lesen, Schreiben, Singen und Rechnen selber ihre liebe Mühe.
Man liest oft von gegenseitigem Streit und Uneinigkeit zwischen Pfarrern und Schulmeistern sowie Unzufriedenheit der Eltern. Mancherorts wurde die Lehrkraft jährlich wieder entlassen.
Diese Schulmeister waren um ihre Aufgabe aber auch nicht zu beneiden:
- so mussten zuweilen 60 bis sogar 100 Schüler in der Privatwohnstube des Lehrers unterrichtet werden
- die Schüler wurden, wenn überhaupt, in drei Klassen eingeteilt: die ABC-Schützen lernten die Buchstaben kennen, die Fortgeschrittenen buchstabierten und erst die Grossen konnten lesen oder gar schreiben. Rechnen wurde anfangs kaum oder nur auf Wunsch unterrichtet.
- als Lehrmittel dienten vor allem der Katechismus und die Bibel.
Der Unterricht war nicht eben schülergerecht:
- das Auswendiglernen von Katechismus, Bibelsprüchen und Kirchenliedern beanspruchte viel Zeit; ebenso das Abschreiben von so genannten «Vorschriften» (Textvorlagen).
Karikatur zur damaligen Schulsituation;
(Johann Nussbiegel, «Antikes Schulwesen», 1825, kolorierte Radierung; Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum)
Der Unterricht fand lange nur im Wintersemester statt, von Martini (11. Nov.) bis Ostern, erst im 17. Jahrhundert wurde er bis zur Erntezeit im Sommer verlängert.
Die Schülerzahl im Sommer war aber gering: die Kinder wurden zuhause für die Landarbeit gebraucht, der Sinn der Schule war nicht allen Eltern einsichtig, und schlussendlich konnte so auch das wöchentliche Schulgeld gespart werden.
Ausbürger und Hintersassen ohne Gemeindebürgerrecht hatten sich übrigens zusätzlich in die Schule einzukaufen.
Die Schulmeister konnten denn von ihrem Lohn auch nicht leben; alle mussten einem Nebenerwerb nachgehen, und so gab es in der Schulführung "offt versaümniss" – fürnehmlich im dreschet nach Martini, u[nd] wenn man anfängt haberen.
Mein Urgrossvater in Bottighofen verdiente mit seinen Bienen mehr als mit dem Unterricht von 96 Schülern!
"Alle drey besitzen für ihr amt hinlängliche fähigkeiten, um selbige in der anwendung würksamer zu machen, dörfften sie nur besser bezahlt werden."
Noch 1837 beklagte sich J.A. Pupikofer:
"Schade nur, dass der Gesetzgeber damals den Schullehrern eine Besoldung bestimmt hat, welche unter dem Taglohne eines Webers oder Taglöhners und in gar keinem Verhältnisse mit den gesetzlichen Anforderungen steht."
Albert Anker,
"das Schulexamen", 1862
Wiki Commons
1771 wurde in Thurgauer Schulen eine Umfrage über die Schulsituation durchgeführt.
Die unten stehenden Antworten geben einen interessanten Einblick, stöbern Sie einmal!
Die Fragestellungen zu den Antworten müssen Sie sich allerdings vorstellen; sie sind in der Datei links zusammengestellt:
Der Erziehungsminister des neuen Einheitsstaates der Helvetischen Republik, Philipp Albert Stapfer, liess bei allen Schweizer Schulen 1799 eine Umfrage über die Schulsituation durchführen - die "Stapfer-Enquête".
Philipp Albert Stapfer, Erziehungsminister der Helvetischen Republik
Die Resultate dieser höchst aufschlussreichen Umfrage sind unter www.stapferenquete.ch online.
Also denn: Erforschen Sie die Schulsituation Ihres Wohnortes anno 1799: was und wie unterrichtet wurde, wer der Lehrer war, wieviele Kinder zur Schule kamen oder wie das Schulhaus aussah.
1803, nach dem Ende der Helvetischen Republik, fiel das Schulwesen wieder unter konfessionelle Aufsicht, was der Schule nicht gut bekam. Zu sehr musste gespart werden.
So beklagte J.A. Pupikofer den "fürchterlichsten Schlendrian" an Thurgauer Schulen, und der Bildungsstand der Bevölkerung blieb auf bedenklich tiefem Niveau.
Regierungsrat Freyenmuth stelle einmal desillusioniert fest:
"Die Gemeinde Egelshofen hat eine sehr unwissende Vorsteherschaft, da Ammann und Sekretär der deutschen Sprache sozusagen unkundig sind und, wenn sie etwas Schriftliches von sich geben, ein wahrer Unsinn herauskommt, ohne dass sie auch nur ahnen, dass es Unsinn ist."
Auch in Bezug auf den Schulbesuch herrschte ein fürchterlicher Schlendrian - studieren Sie die Absenzen im nebenstehenden Inspektionsbericht von Salenstein!
Da nehmen sich die beiden heutigen Jokertage ja geradezu bescheiden aus!
Das neue Schulgesetz von 1833, mit dem sich gemäss neuer Kantonsverfassung der Staat des Schulwesens angenommen hat, ist nicht überall gut aufgenommen worden; der Schuster Leonhard Rickenbach aus Salenstein beklagte sich wiederholt mit diesen Worten beim Schulpfleger.
Trotzdem: dieses Schulgesetz gilt als Beginn der Thurgauer Volksschule und brachte folgende Neuerungen:
- die obligatorische Schulpflicht für alle Thurgauer Kinder
- eine sechsjährige Alltagsschule und eine dreijährige Repetierschule (mit Unterricht an 1-2 Halbtagen)
- Möglichkeit zur Einrichtung von Sekundarschulen
- Ausweitung der jährlichen Schulzeit auf 32 Wochen
- Einrichtung einer Lehrer-Ausbildungsstätte in Kreuzlingen
- ab 1840 auch eine Mädchen-Arbeitsschule
- 1853 Einführung der heutigen 40 jährlichen Schulwochen
Viele dieser Neuerungen wurden aber nur sehr zögerlich umgesetzt - in einem "von Vorurteilen und Unwissenheit befangenen Volk, das sich Neuerungen ängstlich verschloss und oft stur am Hergebrachten hing" (das kommt einem zuweilen auch heute noch bekannt vor...)
"Unterschule" Salenstein 1875 mit Lehrer Siegwart
aus der Festschrift zur Eröffnung des Schulzentrums Salenstein 1993, Schulgemeinde Salenstein
Der Lipperswiler Pfarrer hatte in diesem Wohnhaus in Wäldi 1767 eine Schule eingerichtet - aber auch nur, weil er mit einem Hintersassen (also ein Zugezogener ohne Bürgerrecht) nicht zufrieden gewesen war, der auf eigene Faust mit Schulunterricht begonnen hatte.
Das neue Schugesetz sah auch vor, dass der Unterricht nicht mehr in der Privatwohnung des Schulmeisters, sondern in einem Schulhaus stattfinden soll.
So wurden ab 1830 in rund hundert Thurgauer Gemeinden neue Schulhäuser gebaut; 1841 kamen dasjenige von Engwilen und 1887 jenes von Wäldi dazu (das 1967 abgerissen und durch das heutige ersetzt wurde).
Da oft eine einzelne Ortschaft zu klein für ein eigenes Schulhaus war, gingen dem Bau gerne hartnäckigste Auseinandersetzungen über den Standort voraus.
So wurden beispielsweise in Hefenhausen-Hattenhausen-Sonterswil von jedem Haus aus die nötigen Schritte zu einem künftigen Schulhausstandort bestimmt, um eine für alle "gerechte" Lösung zu finden! (Rechnen schienen sie also gekonnt zu haben)
über Schulvorsteherschaften:
- was soll ich von den Schulvorstehern sagen? Hier sind Hopfen und Malz verloren, sie wetteifern, sich einander in der Trägheit und Saumseligkeit zu übertreffen...
- hier wird die Schule von den Schulvorstehern sehr wenig besucht; die jungen sind zu furchtsam, die alten scheuen die hohe Stiege, stets befürchtend, es möchten asthmatische Beschwerden eintreten, was freilich der Schule nicht zum Vorteil gereicht.
über Lehrkräfte:
- seine Talente sind mittelmässig, die Kenntnisse weniger als mittelmässig, seine Sitten ohne Klage, aber sein Benehmen in der Schule roh, fast zänkisch.
- die Talente scheinen nicht übel und an Fleiss und Liebe zu den Kindern fehlt es nicht; allein die Kenntnisse sind sehr mangelhaft.
- Sitten und Fleiss sind gut, aber Altersschwäche und hüstelnde Affektation sind Eigenschaften, die den Mann nicht empfehlen.
über den Unterricht:
- von eigentlicher Methode ist keine Rede; nur die vorgerückten Schüler werden klassenweise geübt; eine Stundeneinteilung fehlt. Die unteren Klassen sind unterbeschäftigt, so lange der Lehrer mit den oberen sich abgibt.
- die Orthographie und Grammatik wird sehr schlecht, das Kopfrechnen und Stilübungen gar nicht betrieben; in allem übrigen sind die Leistungen mittelmässig.
- von Erklären und Verstehen ist keine Rede; die Orthographie ist schlecht; das Zifferrechnen wenig; das Kopfrechnen nichts; die Sprachlehre nichts als etwas Wörterkenntnisse; der Gesang ist unsicher und schreiend; die Memoranden beschränken sich auf den Katechismus.
(Zitate aus R. Soland, "So lebten unsere Vorfahren", Lehrmittelverlag TG)
Der neu eingeführte Turnunterricht ab 1875 stiess unter all den Neuerungen auf den grössten Widerstand der Bevölkerung, denn es mussten Turnanlagen geschaffen und Turngeräte gekauft werden.
Der Sinn der verschiedenen Frei- und Stabübungen und das Turnen an den Geräten (Reck, Barren, Kletterstangen) schienen auch nicht immer einsichtig gewesen zu sein.
Spiele wie Korbball oder Jägerball hielten nur sehr zögernd Einzug.
Bei der Einteilung der neuen Sekunarschulkreise wurde darauf geachtet, dass kein Kind länger als eineinhalb Stunden zur Schule unterwegs sein musste - für den Hinweg notabene, und bei jedem Wetter.
Da wurden also noch keine Sprösslinge beim ersten Regentröpfchen im BMW zur Schule chauffiert!
Wäldi wurde der Sekundarschulgemeinde Tägerwilen zugewiesen, Gunterswilen vorerst zu Ermatingen, Sonterswil zu Wigoltingen.
Engwilen gehörte zeitweise zur 8 km (!) entfernten Sekundarschule Müllheim - da blieb keine Zeit zum Trödeln.
Der Aktuar der Schulbehörde Salenstein macht die saubere Schrift im Protokoll gleich selbst vor!
(auch wenn die Mitglieder dieser Behörde oft über eine Stunde zu spät zu den Sitzungen kamen und dann zuweilen noch die Tintenfässchen der Schüler als Aschenbecher benützten...)
Schulschrift anno 1940
Schulschrift anno 1992
Schulschrift anno 2016
Weitere Entwicklungsschritte der Thurgauer Schule waren in Stichworten:
- 1874 Unentgeldlichkeit des Schulbesuchs
- 1915 acht Jahre Schulpflicht, Abschaffung der Repetierschule
(diese Umsetzung dauerte mancherorts 40 Jahre, z. Bsp. in Salenstein)
Oberschule Salenstein 1918 mit Lehrer Bischof
aus der Festschrift zur Eröffnung des Schulzentrums Salenstein 1993, Schulgemeinde Salenstein
- 1966 Abschlussklassen für das 7. und 8. Schuljahr
- 1978 neun Jahre Schulpflicht; gleicher Unterricht für Mädchen und Knaben
- 1989 Langschuljahr und Schuljahresbeginn im Spätsommer
- 1996 Fünftage-Woche
- 2003 Pädagogische Hochschule in Kreuzlingen
- 2017 Lehrplan Volksschule Thurgau
Erzählen Sie doch einmal Ihren Kindern, dass es früher andere Pausenspiele gegeben hat als heute!
Ausschnitte aus zwei Erzählungen von "Geschichten aus dem Rebhaus", Werner Friedrich. Huber Verlag; heute www.orell-fuessli.ch; vergriffen
Wer bei Hedi Blattner in der Unterstufe drei Züge schwimmen gelernt hatte, erhielt zur Belohnung 20 Rappen, was ich in der allerletzten Schulwoche gerade noch hustend und prustend geschafft habe. Wenigstens bin ich nicht ertrunken, und wohl deshalb hat sich "Fräulein Blattner" grosszügig gezeigt!
Hier erzählt sie aber nicht vom Schwimmunterricht im See, sondern aus ihrer Arbeit im Schulzimmer:
Der Volksschriftsteller Jakob Stutz erkannte das Geheimnis einer guten Schule schon vor zwei Jahrhunderten:
"Aber sonderbar – wo tüchtige Schulmeister am Werk waren, lernten die Schüler trotz der mangelhaften Lehrmittel doch etwas Rechtes.
Zeigt uns nicht auch die neueste Zeit, dass die besten Lehrmittel doch nicht die Hauptsache sind? Der Lehrer, der soll selbst das beste Lehrmittel sein. Ohne dies sind ihm die Schulbücher nur Noth- und Hülfsbüchlein..."
Diese Formulierung hat ihre Gültigkeit bis heute bewahrt und hätte sogar im Vorwort zum neuen Lehrplan verwendet werden können, zum Beispiel:
"Der vorliegende Lehrplan mit all seinen Kompetenzen ist nichts als ein Noth- und Hülfsbüchlein, und erst der tüchtige Schulmeister macht daraus etwas Rechtes!"
Besuchen Sie das Schulmuseum Amriswil:
Das Schulmuseum in Amriswil ist ein überregionales Museum für Schulgeschichte und Aspekte der Schweizer Schulkultur. Die Sammlung setzt in erster Linie auf Objekte aus dem Kanton Thurgau.
Aber auch das Schulmuseum in Friedrichshafen wird Ihnen gefallen.
Besuchen Sie es bei Ihrer nächsten Bodenseerundfahrt, es liegt gleich an der Strecke.